Ein sonniger Septembernachmittag auf dem Flachsmarkt in Duisburg, Menschen treffen sich auf dem offenen Platz unter schattigen Bäumen, kommen Limo schlürfend ins Gespräch, schauen beim Stand von Ercan Demirel vorbei, der auf einem Tisch seine Schmuckstücke aufgebaut hat: historische Kassetten mit türkischsprachiger Musik, verlegt in Deutschland. Manche von ihnen sind Raritäten, die er aus der Vergessenheit geborgen hat, andere Meilensteine der türkischsprachigen Musikgeschichte in Deutschland, millionenfach verkauft und dennoch von der deutschen Öffentlichkeit bis heute überhört.
Es ist Musik, die vom Leben der türkischen Arbeiter*innen in Deutschland erzählt, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, von Erniedrigung, Ausbeutung, Heimweh, während der Arbeit verflossener Jugend und von der Liebe. Auch Neuerscheinungen hat Ercan mitgebracht, liebevoll auf Vinyl gepresst und verlegt von seinem Label „Ironhand Records“. Zu jeder Platte, zu jeder Band, zu jedem Lied, weiß er mit leuchtenden Augen eine Geschichte zu erzählen. Auf seinem Youtubecannel „Türkisch Bootlegs“ veröffentlicht er jeden Samstag zur gleichen Zeit einen Schatz aus der türkisch-deutschen Musikgeschichte mit dem Hashtag #Gastarbeitergroove.
Diese Musik ist der Grund, warum wir auf dem Flachsmarkt zusammengekommen sind. Sie ist die Protagonistin des Programms, das die Dokomotive in Kooperation mit der Duisburger Filmwoche auf die Beine gestellt hat. Im Mittelpunkt: der Dokumentarfilm „Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ von Cem Kaya. Der Film birgt das reiche kulturelle und zeithistorische Erbe, dass diese Musik in sich trägt. Von den Gurbetçi-Liedern bis zum Hip Hop: Jedes Stück ist ein zeitgeschichtliches Zeugnis aus sieben Jahrzehnten der deutschen Geschichte, vom ersten Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961, mit dem die ersten sogenannten Gastarbeiter*innen in die Bundesrepublik kamen, bis heute. Es ist ein Teil der Geschichte Deutschlands, der oft vernachlässigt und auch bewusst verdrängt wird.
Genau wie die Sammlung von Ercan, zeugt auch der Film von der ungemeinen Schaffenskraft und Kreativität von Generationen von türkischsprachigen Musiker*innen in Deutschland. Ihre Musik steckt an mit ihrem Witz, ihrer Melancholie, Sehnsucht, Widerstand und auch mit ihrer Wut.
Denn die Geschichte der Gastarbeiter*innen aus der Türkei und ihrer Musik lässt sich nicht erzählen, ohne den Rassismus, der den Menschen von Anfang an entgegenschlug. „Helmut Kohl und Strauß, wollen Ausländer raus, le le liebe Gabi“, singen Derdiyoklar. „Yalan Almanya“, klagt Cavidan Ünal, die Diva Europas. „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an“, zitiert Cem Karaca in seinem Song Max Frisch. Eine neue Generation von Hip Hip Künstler*innen rappte in den 90ern gegen den erstarkenden rassistischen Terror und Gewalt, der unter anderen in Duisburg, Mölln und Solingen sein hässliches Gesicht zeigte.
Einer von ihnen war und ist Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia. Und dass seine Texte mitreißen, berühren, Kraft geben im Kampf für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, auch das wurde an diesem Abend, der wegen des Regens im Saal des Internationalen Zentrums endete, erlebbar. Seit 35 Jahren rappt Kutlu, hat Wichtiges zu sagen und Kraft in der Lunge. „Gastarbeiter – eigentlich ein absurder Begriff. Normalerweise müssen Gäste nicht arbeiten“, sagt er und erzählt von seinem Vater, der als junger Mann mit seiner Frau nach Deutschland kam und vom ersten Tag an hart arbeitete, kaum Deutsch lernen konnte und dennoch keinen Elternabend in der Schule verpasste.
Am Ende des Films und des Abends steht die Gewissheit: Es ist noch lange nicht alles gesagt, wir haben noch nicht genug gesungen und der Kampf gegen Rassismus, Ausgrenzung und Gewalt geht natürlich weiter. Wenige Tage zuvor wurde der Film in Köln gecancelt: nach einem Screening hat der Bürgerverein Volkhoven/Weiler e.V. weitere geplante Veranstaltungen abgesagt, mit der Begründung, der Film würde „Ressentiments gegen Deutsche“ schüren. Kutlu Yurtseven hat auf solche Angriffe von rechts an diesem Abend eine Antwort: „Wenn sie uns aus der Tür rausjagen, kommen wir zum Fenster wieder rein“.
Danke für die Begegnungen an diesem Abend, für die Melodien, für die Gespräche und die offenen Türen (und Fenster)! Der Dank geht an alle, die gekommen sind und natürlich an unseren Kooperationspartner, die Duisburger Filmwoche, die diese Veranstaltung möglich gemacht hat, das Goethe-Institut und Let’s Dok. Dem IZ danken wir für die Räume und dem Stapeltor für die Technik.
(Maria Kindling, Dokomotive Plattform)
Flachsmarkt Duisburg